Lyrik
Johann Wolfgang von Goethe teilte die literarischen Gattungen im 18. Jahrhundert in Dramatik, Epik und Lyrik ein. Der Begriff Lyrik kommt von "Lyra", einem Saitenspiel, zu dem in der Antike gesungen wurde. Die Gattung Lyrik wird seither stiefmütterlich behandelt und oftmals ex negativum definiert. So ist Lyrik eben gerade nicht auf die Aufführung (wie das Drama) hin angelegt. Dieter Lampig (*1954) wagt eine "Minimaldefinition": "Versrede" oder "Rede in Versen". Ein Vers ist eine syntaktische Einheit, in der Versfüße (Jambus, Trochäus, Daktylus, Anapäst, Spondeus) kunstvoll bzw. artistisch eingearbeitet sind.
Weitere wichtige Definitionen sind:
- Abweichung von der Alltagssprache,
- Rhythmische Segmentierung (Pausen),
- Nähe zum Lied,
- Sangbarkeit,
- Selbstaussage eines Ich,
- Selbstreflexivität.
Dieter Burdorf erweitert dabei die Definition um folgende Punkte: Gedichte sind keine Rollenspiele. Also gibt es hier eine klare Abgrenzung zum aufgeführten Drama, wenngleich auch das Lesedrama hier eine Ausnahme darstellt. Aber warum wird der Reim nicht aufgeführt? Weil eben der meist gebrauchte Endreim nicht konstitutiv ist. Vor allem bei modernen Gedichten verschwindet der Endreim. Wir würden aber dennoch von einem Gedicht sprechen - auch wenn kein Reim zu finden ist. "Klopstock konnte jedoch um 1750 reimlose Gedichte in der Kunstpraxis durchsetzen; bereits Lessing und Goethe akzeptierten beide Formen von Gedichten als grundsätzlich gleichberechtigt." (Burdorf, S. 32).
Lyrik ist also eine Gattung. Diese zieht Grenzen und nennt Gemeinsamkeiten und ist an einer formalen, ästhetischen oder literatur-kommunikatorischen bzw. inhaltlichen Textgruppenbildung interessiert. Inhaltlich können zum Beispiel folgende Gedichte unterschieden werden. Es kann vorkommen, dass diese Gedichte nicht nur durch inhaltliche, sondern auch durch formale Einteilungskriterien greifbar sind:
- Dinggedicht
- Liebeslyrik
- Naturlyrik
- Elegie
- Hymne
- Epigramm
- Haiku
Für Lyrik als Gesang spricht die Etymologie des Wortes. Im Griechischen bezeichnet die Lyra ein Zupfinstrument, das Gesang begleitete. Im Gesang zeigt sich auch die Abweichung von der Alltagssprache, denn um gut zu klingen, muss das Gedicht eine gewisse Metrik aufweisen. Im Laufe der Zeit von der Antike bis zur Gegenwart wurden andere Traditionen wieder aufgegriffen, andere Formen verloren ihren Wert, wurden vergessen oder kamen hinzu. In der Antike war das quantitierende Prinzip vorherrschend, bei dem die Anzahl der Silben und die daraus resultierende Verslänge von Bedeutung war. Seit Opitz in seinem "Buch der deutschen Poeterey" vom Jahre 1624 tritt an diese Stelle das akzentuierende Prinzip, bei dem die Hervorhebung der betonten Silben gegenüber den unbetonten an Bedeutung im Deutschen gewinnt.
In verschiedenen Strömungen der Literaturgeschichte wurden Gedichte anders gesehen. Lyriker der Empfindsamkeit setzten der Aufklärung im 18. Jahrhundert das Gefühl, die Empfindung und die Stimmung entgegen. In der Aufklärung wurden kaum Gedichte produziert, wohingegen das Drama die wichtigste Großgattung wurde.
In den Epochen der deutschen Literaturgeschichte können verschiedene Strophenformen und Gedichtformen unterschieden werden:
Romantik:
- Volksliedstrophe (4 Verse, dreihebig, alternierend oder jambischer Fünfheber, männlich/weibliche Kadenz)
So bist du denn geworden
Wie ich dich nie gekannt:
Dein Herz schlägt allerorten
In einem Brunnenland
(Paul Celan: So bist du denn
geworden, V. 1-4).
- Romanzenstrophe (4 Verse vierhebig, trochäisch, ohne Auftakt, Kreuzreim, männliche/weibliche Kadenz abwechselnd; auch Suleikastrophe" nach J. W. v. Goethes "West-Östlichem Divan" benannt)
Pfirsich an der Gartenmauer,
Kranich auf der Winterflucht.
Herbstes Freuden, Herbstes
Trauer,
Welke Rosen, reife Frucht.
(Detlev von Liliencron: Herbst,
V. 9-12).
- Schenkenstrophe (4 Verse, trochäisch, ohne Auftakt, Kreuzreim, nur weibliche Kadenzen; ebenfalls aus J. W. v. Goethes "West-Östlichem Divan")
Ins Museum bin zu später
Stunde heut ich noch gegangen,
Wo die Heilgen, wo die Beter
Auf den goldnen Gründen prangen.
(C.F. Meyer: Auf Goldgrund, V. 1-4).
Ab dem 19. Jahrhundert: Stimmungsausdruck durch die Lyrik.
Ab dem 20. Jahrhundert:
- Dinggedicht (Thematisch wandelt sich hier der Stimmungsausdruck in der Romantik, der Empfindsamkeit und des 19. Jahrhundert zur Hinwendung zu einer Sache, eben einem Ding, z. B. Rainer Maria Rilke: "Archaischer Torso Apollos" (1908), "Der Panther" (1902/1903); Eduard Mörike: "Auf eine Lampe" (1846). Diese Gedichte stehen in diametralem Gegensatz zu vorherigen Selbstaussagen eines Ich.
Grundsätzlich kann aber auch zwischen politisch motivierter Lyrik, wie sie Bertolt Brecht schrieb, und Lyrik des L´art pour l´art getrennt werden. Während Brecht mit seinen Gedichten etwas erreichen wollte und seine Lyrik nie Selbstzweck sein sollte, gibt es Gedichte, die einzig für sich selbst existieren.
Versformen
Romanische Versformen
- Alexandriner (jambischer Sechsheber mit Zäsur nach der dritten Hebung)
- Vers commun (verkürzter Alexandriner mit 10 bzw. 11 Silben, feste Zäsur nach der vierten Silbe, dt.: jambisch, Zäsur nach der zweiten Hebung)
- Endecasillabo (Elfsilber, klassischer Vers der ital. Literatur)
- Blankvers (jambischer Fünfheber, reimlos, aus der englischen Literatur, Nachbildung des Vers commun, Dramenvers von Shakespeare übernommen (z. B. G. E. Lessing))
Antike Versformen
- Hexameter (sechs Daktylen, erste vier Dakylen können durch Spondeen oder Trochäen ersetzt sein, reimlos)
- Pentameter (sechs Daktylen, deren erste beide Verse durch Spondeen oder Trochäen ersetzt sein können, reimlos)
Strophenformen
Romanische Strophenformen
- Romanzenstrophe (4 Verse, vierhebig, trochäisch, ohne Auftakt, Kreuzreim, männliche/weibliche Kadenz abwechselnd; auch Suleikastrophe" nach J. W. v. Goethes "West-Östlichem Divan" benannt), Beispiel s. o.
- Terzine (aus ital. Dichtung, dreizeilige Strophenfolge, jambischer Fünfheber, Reimform aba bcb c, einzelner Vers als Abschluss, im dt. können die Kadenzen weiblich oder männlich sein), z. B. Hugo von Hofmannsthal, Martin Opitz, August von Platens Romantischer Ödipus, J. W. von Goethe)
Über Vergänglichkeit
Noch spür ich ihren Atem auf den Wangen:
Wie kann das sein, daß diese nahen Tage
Fort sind, für immer fort, und ganz vergangen?
Dies ist ein Ding, das keiner voll aussinnt,
Und viel zu grauenvoll, als daß man klage:
Daß alles gleitet und vorüberrinnt.
Und daß mein eignes Ich, durch nichts gehemmt,
Herüberglitt aus einem kleinen Kind,
Mir wie ein Hund unheimlich stumm und fremd.
Dann: daß ich auch vor hundert Jahren war
Und meine Ahnen, die im Totenhemd,
Mit mir verwandt sind wie mein eignes Haar,
So eins mit mir als wie mein eignes Haar.
(Hugo von Hofmannsthal: Gedichte in Terzinen, 1894, 1. Strophe)
- Stanze (acht Endecasillabi (Elfsilber), Reimschema: abababcc; im dt.: jambischer Fünfheber mit Zäsur nach 6. oder 7. Hebung)
Ins Dunkel will des Jahres Licht sich neigen;
Des Lebens heiße Glut, sie kehret wieder
In ew’gen Feuers Schooß zurück; es schweigen,
Die sie entzündet, schon im Hain die Lieder;
Die Liebe flieht, und kalt entlöst den Zweigen
Sich mattes Laub, der Blumen Schmuck sinkt nieder.
Das Herz erstirbt, die Adern sind verschlossen,
Worin Gedeihn und Kraft sich frisch ergossen.
(Johann Wilhelm Süvern, Wiedergeburt, 1800, 1. Strophe)
Antike Strophenformen
Odenstrophen
- Alkäische Strophe (4 Verse, erste beiden gleich gebaut, letzter Vers Hebung oder Senkung, Fehlen eines Hebungspralls)
Entschwebtest du dem Seelengefilde schon,
Du süßes Mädchen? Wehet das Flügelkleid
Dir an der Schulter? Bebt der Strauß dir
Schon an der wallenden schönen Brust auf?
(Friedrich Hölty: Die künftige Geliebte, V. 1-4)
- Asklepiadische Strophe (4 Verse, zwei parallele Sechsheber mit Mittelzäsur durch Hebungsprall, zwei kürzere Verse von ähnlichem Muster)
Der verkennet den Scherz, hat von den Grazien
Keine Miene belauscht, der es nicht fassen kann,
Daß der Liebling der Freude
Nur mit Sokrates Freunden lacht.
(Friedrich Klopstock: An Gleim, V. 1-4)
- Sapphische Strophe ( vier Verse, fester oder verschiebbarer Daktylus in den elfsilbigen Versen 1-3, meist an dritter Stelle, deutlich verkürzter letzter Vers (4))
Komm, und sieh, hochoben vom
Dach, den Spiegel
Dieses Golfs, weiteben und segelreich an!
Sieh von fern herwehen den Rauch Neapels
Sieh des Vesuvs Rauch!
(August von Platen: Einladung
nach Sorrent, V. 29-32)
Hölty! dein Freund, der Frühling,
ist gekommen!
Klagend irrt er im Haine, dich zu
finden;
Doch umsonst! sein klagender Ruf
verhallt in
Einsamen Schatten!
(Nikolaus Lenau: Am Grabe Höltys,
V. 1-4)
Distichon (antike Strophen- und Gedichtform)
- elegisches Distichon (aus Hexameter und Pentameter zusammengesetzt)
Im Hexameter steigt des
Springquells flüssige Säule,
Im Pentameter drauf fällt sie meldodisch herab.
(Friedrich von Schiller: Das Distichon)
Sonstige Strophenformen
- Chevy-Chase-Strophe (Balladen- und Volksliedstrophe: vier Verse, regelmäßig alternierend mit Auftakt (jambisch), nur männliche Kadenzen; 1. und 3. Vers vierhebig, 2. und 4. Vers dreihebig, hier Kreuzreim abab oder unterbrochener Reim).
Was helfen Waffen und Geschütz
Im ungerechten Krieg?
Gott donnerte bei Lowositz,
Und unser war der Sieg.
(Johann Ludwig Gleim:
Schlachtgesang bey Eröffnung des Feldzuges 1757, V. 17-20.)
- Kirchenliedstrophe (4 Verse, regelmäßig alternierend, (jambisch), Paarreim, männliche Kadenz)
Du sehr verachter Bauernstand,
Bist doch der beste in dem Land,
Kein Mann dich gnugsam preisen
kann,
Wenn er dich nur recht siehet an.
(Hans Jacob Christoph von
Grimmelshausen: Der abenteuerliche Simplicissimus).
Wie sicher lebt der Mensch, der
Staub!
Sein Leben ist ein fallend Laub;
Und dennoch schmeichelt er sich
gern,
Der Tag des Todes sei noch fern.
(Christian Gellert: Betrachtung
des Todes, V. 1-4)
- Knittelvers (häufig alternierendes Versmaß, Paarreim)
- freier Knittelvers (Verse mit großer Füllungsfreiheit)
- strenger Knittelvers (achtsilbig bei männlicher Kadenz, neunsilbig bei weiblicher Kadenz)
- Madrigalvers (aus italienischem Madriagal übernommen; im Dt.: Jamben und Trochäen in unterschiedlicher Zahl (2-6), abb cdd eff gg hh)
- Vagantenstrophe - Nähe zur Chevy-Chase-Strophe (in Volkslied- oder Kunstlied häufig verwendet; vier Verse, regelmäßig alternierend (jambisch), 1. und 3. Vers: vierhebig mit männlicher Kadenz, 2. und 4. Verse: dreihebig mit weiblicher Kadenz, Kreuzreim)
Der Winter ist ein rechter Mann,
Kernfest und auf die Dauer;
Sein Fleisch fühlt sich wie Eisen an,
Und scheut nicht süß noch sauer.
(Matthias Claudius: Ein Lied hinterm Ofen zu singen, V. 1-4).
- Volksliedstrophe (s. o.)
Gedichtformen
- Sonett (14 Verse, 2 Quartette, 2 Terzette, dt.: abba abba, Schweifreim)
- alter ital. Version (abab abab cdc dcd)
- neuerer ital.Version (abba abba cdc dcd)
- franz. Version (abba abba ccd ede)
- Shakespeare-Sonett (abab cdcd efef gg)
- Ode (nicht gereimt)
- Triolett
- Rondel
- Rondeau
- Glosse
- Sestine
- Kanzone
- Madrigal
Reimformen (obwohl der Reim in der Lyrik nicht konstitutiv ist, gehört er doch zur Bestimmung dazu)
Endreime
- Paarreim aabb
- Kreuzreim abab
- Blockreim (oft auch umarmender Reim) abba
- Haufenreim aaabbb
- Schweifreim aabccb
- Waisen x (reimen sich mit keinem anderen Versende)
. Körner (reimt sich ein Vers nicht mit einem anderen derselben Strophe, sondern mit einem Vers einer anderen Strophe)
Anfangsreime
- Anapher (Wiederholung des Satzanfanges)
Binnenreime
- Schlagreim (bei direkt aufeinanderfolgenden Wörtern)
- Inreim (ein Versende wird mit dem Innern desselben oder eines anderen Verses (Mittenreim), um zwei Wörter aus dem Innern aufeinanderfolgender Verse (Mittelreim)
Andere Formen des Reims:
- Assonanz (es besteht keine Konsonantenübereinstimmung, sondern nur ein Gleichklang der betonten Vokale), z. B. Himmel/Stille)
- Alliteration (Übereinstimmung der anlautenden Konsonanten), z. B. Himmel/Held
- Stabreim (Langzeile, in der drei der vier Haupthebungen den gleichen Anlaut (Konsonant oder Vokal) tragen)
- Onomatopoesie (Lautmalerei), z. B. quitschen, knarren, rascheln
- Grammatischer Reim, z. B. ich leit´/Geleit, geht/gegangen
- unreiner Reim ("Thal"/"Nachtigall")
Man merke sich: Odenstrophen sind nie gereimt.
Literatur
Allkemper/Eke: Lyrik. In:: dies.: Literaturwissenschaft. (2)2006, S. 125-149, S. 296-298.
Fricke, Harald, Stocker, Peter: Lyrik. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Berlin 2007, S. 498 - 502.
Burdorf: Einführung in die Gedichtanalyse, Stuttgart (2)1997.
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